U-Bahn
Die Dame saß, vertieft in etwas auf ihrem Smartphone, dessen Displaylicht sich in den Gläsern der schwarzen umrahmten Brille spiegelte. So versunken war sie in ihr Lesen, dass die übliche Geräuschkulisse der U-Bahn an ihr abzuperlen schien. Ein Gesicht wie es Leonardo nicht schöner hätte in den Marmor schneiden können. Ein wohlgeformtes Nasenbein, perfekt proportionierte Lippen und edle Wangenknochen und über hoher Stirn zum Knoten zusammengestecktes pechschwarzes Haar, waren nach allen Maßstäben ein äußerst ansehnliches hübsches Gesicht. Auch die gepflegten Hände, zierlich und mit dezent manikürten Nägeln, passten zur Gesamterscheinung. Ihre Schönheit strahlte von Innen und dies trotz der Falten und Zeichen des fortgeschrittenen Alters die sich wie eine semitransparente Lage über die ursprüngliche Glätte und Straffheit ausgebreitet hatten. Für Momente verschwanden 40, 50 Jahre und das Alte, Verbrauchte schien unsichtbar, wie eine ausgeschaltete Photoshopebene. Ihre Jugend blitze durch. Ich wünschte mir, dass sich ihre Augen vom Display lösten und mich anschauen würden, nur für einen Moment. Welche Horizonte sie wohl geschaut haben wird mir für immer verborgen blieben, stelle ich in einem Gedanken von Wehmut fest. Der Zug rattert durch den Tunnel und verlangsamt sich zum nächsten Halt. Wir stehen beide auf um zu gehen. Mein Sinnen über dieses unbekannte Gegenüber verliert sich schon auf den ersten Stufen der Rolltreppe, auf der ich in raschen Schritten an den Stehenden vorbei steige.